Texte aus unseren Veranstaltungen

zurück

Fünf Fragen an....

Gerhard Schreiber

Fünf Fragen stellte PD Dr. Jantine Nierop an Dr. Gerhard Schreiber, Akademischer Rat am Institut für Theologie und Sozialethik (iths) der Technischen Universität Darmstadt.

 

1. Herr Schreiber, was sagen Sie, wenn Sie gefragt werden: Eine bipolare Geschlechterordnung (Mann und Frau), warum nicht?

Der uns heute so vertraute Gedanke einer komplementären Dualität der Geschlechter ist keine zeit- und kulturübergreifende Konstante, sondern hat erst in der Neuzeit als Folge gesellschaftsstruktureller Entwicklungen seine allgemeine Durchsetzung erfahren. Er ist ein Reflex sich verändernder gesellschaftlicher Realitäten durch das aufkommende Bürgertum. Sozialwissenschaftliche und sozialpsychologische Untersuchungen über sogenannte "geschlechtsabhängige Merkmale" haben gezeigt, dass "Männer" und "Frauen" keine zwei kategorisch verschiedene Wesen sind, im Blick auf Eigenschaften, Merkmale und Verhaltensweisen vielmehr Zonen der geschlechtlichen Uneindeutigkeit existieren, die das binäre Schema sprengen. Der US-amerikanischen Biologin Joan E. Roughgarden zufolge gibt es bei der biologischen Definition von "männlich" und "weiblich" nur ein einziges allgemeines Binärmerkmal: In nahezu sämtlichen sich sexuell reproduzierenden Arten produzieren die Individuen insgesamt genau zwei Größen von Geschlechtszellen, eine kleine und eine große bzw. Mikrogameten und Makrogameten. Alle anderen Merkmale sind bei den Individuen nicht nur zwischen den Arten, sondern auch innerhalb einer Art zu variabel, um als Grundlage einer (abgrenzungstauglichen) Definition zu dienen. Zur Zeugung eines Kindes bedarf es der Verschmelzung zweier haploider Gameten, Eizelle und Spermium, im Verlaufe der weiteren pränatalen und postnatalen Entwicklung des Kindes ist das Vorhandensein oder die Anwesenheit beider "genetischer Eltern" allerdings weder unabdingbare Voraussetzung noch ein exaktes Spiegelbild tatsächlicher gesellschaftlicher Verhältnisse: eine ganze Generation von Kindern wurde allein von Kriegerwitwen großgezogen, die Zahl alleinerziehender Eltern wächst seit den 1960er-Jahren ständig weiter an.

 

2. Der Satz "Gott schuf sie männlich und weiblich"  (Gen 1,27) wird oft  auf die Erschaffung der Geschlechter bezogen. Liegt die Pointe nicht vielmehr darin, dass Gott die Menschen so schuf, dass sie sich fortpflanzen konnten? Denn so geht es weiter: "Seid fruchtbar und mehret euch" (Gen 1,28).

Mit biologischer Nüchternheit gesprochen, dient Geschlechtsverkehr nicht der Reproduktion, sondern der Vermischung der Gene. Auch weist Geschlecht ein wesentlich breiteres Spektrum auf, als es durch eine binäre Einteilung der Menschen in "männlich" und "weiblich" abgebildet wird. Biblische Aussagen zu Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit des Menschen spiegeln einen früheren, zeitgebundenen Wissens- und Erkenntnisstand wider, doch dürfen wir qualitativ verschiedene Deutungs- und Erklärungsebenen nicht einfach miteinander vermischen oder gegeneinander ausspielen, zumal die Parallelisierung oder gar Gleichsetzung von Natürlichkeit und biologischen Sachverhalten durchaus problematisch ist. Überhaupt gilt zu bedenken, dass wir uns, theologisch betrachtet, "jenseits von Eden" (Gen 4,16) befinden und die Frage des Geschlechts sowohl christologisch ("Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus"; Gal 3,26-28) als auch eschatologisch ("Denn in der Auferstehung werden sie weder heiraten noch sich heiraten lassen, sondern sie sind wie Engel im Himmel"; Mt 22,30) letztlich ohne Relevanz ist.

 

3. Die Phänomene Inter- und Transsexualität scheinen manchmal eine (zumindest theoretische) Herausforderung für die Genderforschung darzustellen. In wissenschaftlicher Literatur zu den beiden Phänomen liest man oft, dass 'das wichtigste Geschlechtsorgan des Menschen sich zwischen den Ohren und nicht zwischen den Beinen befindet' (Milton Diamond). Die Genderforschung unterscheidet ja zwischen 'sex', dem angeborenen, anatomischen Geschlecht eines Menschen, und 'gender', dem rein durch zwischenmenschliche Interaktionen hergestellten sozialen Geschlecht. Gehört das gefühlte Geschlecht von transsexuellen Menschen Ihrer Ansicht nach zu sex oder zu gender?

Die Unterscheidung von biologischem (sex) und sozialem Geschlecht (gender) kann allenfalls aspekthaft zur Kennzeichnung bestimmter Dimensionen von Geschlecht verstanden werden. Eine Trennung würde nicht nur den prozessualen Charakter der Vollzugswirklichkeit, sondern auch den Umstand verkennen, dass unser Verständnis des biologischen Geschlechts gerade nicht unabhängig von dem ist, was wir sozial als Geschlecht betrachten, gesellschaftliche Kategorien dabei also oft implizit vorausgesetzt und reproduziert werden. Hinzu kommt, dass in der Forschung ein geschlechtlicher Paradigmenwechsel von einer exklusiven Binäropposition zweier klar zu unterscheidender Pole hin zum inklusiven Modell eines Kontinuums fließender Übergänge und damit prinzipiell infinitesimaler Zwischenstufen stattgefunden hat. Die Rede von Mustern geschlechtlicher Vielfalt hat im Unterschied zum Gebrauch von Kategorien den Vorteil, starre Schubladen überlieferter Konzepte, wie sie prägend auch für die bestehende Gesellschafts- und Rechtsordnung sind, überwinden und der Vielfalt der menschlichen Wirklichkeit entsprechend Ausdruck verleihen zu können

            Daher scheint mir, dass jede monokausale Betrachtungs- und Erklärungsweise der Vielschichtigkeit dieses ebenso biologischen wie gesellschaftlich-kulturellen Phänomens nicht ausreichend Rechnung zu tragen vermag. Neurowissenschaftlichen Forschungsarbeiten zufolge gelten Strukturen und Funktionen des Gehirns als bestimmend für das subjektiv und objektiv entsprechende Geschlecht. Bei transsexuellen Menschen ist der Geschlechtskörper demzufolge "diskrepant" zum Gehirn als Basis und Determinante nicht nur des eigenen Geschlechtsbewusstseins, sondern, eben dadurch, zugleich der eigenen Geschlechtlichkeit. Wie jeder Hinweis auf eine Tatsache lässt aber auch der Hinweis auf das Angeborensein von Transsexualität die Frage offen, wie ich mich angesichts dessen verhalten soll. Seit jeher werden biologische Unterschiede kulturell imprägniert, mit kulturellen Codes versehen. Und als solche haben auch körperliche und physiologische Befunde erhebliche Bedeutung für die Sozialgestalt menschlichen Lebens. Daher ist auch das Phänomen der Transsexualität nicht unberührt von kulturellen Denkprozessen und Interaktionsmustern.

 

4. Der Mainzer Soziologe und Genderforscher Prof. Dr. Stefan Hirschauer hält Transsexualität für ein kulturelles Phänomen.[1] Von ihm ist folgende Behauptung aus dem Jahr 1995 überliefert: Dass man die Lösung der Probleme Transsexueller in die Hände von Hormonspezialisten und Chirurgen lege, sei etwa so, als würde man Hautärzten die Lösung des Rassenproblems übertragen.[2]

Diese bewusste Provokation Hirschauers, von der ich mich entschieden distanziere, konfundiert nicht nur historisch-soziologische und (sozial)psychologische Erklärungsebenen. Transsexualität ist, wie angedeutet, gerade nicht lediglich ein kulturelles, sondern ein transkulturelles Phänomen. Aus den Entwicklungen und Möglichkeiten der modernen Medizin resultiert allerdings nicht nur eine neue Sichtbarkeit, sondern auch eine neue Verantwortlichkeit für den Umgang mit Geschlechtlichkeit. Maßgebend muss hier der Vorrang der geschlechtlichen Selbstbestimmung vor jeglicher Fremdbestimmung sein. Der Entschluss eines transsexuellen Menschen zur hormonellen und operativen Behandlung entspringt keiner Laune, sondern dem tiefen, existentiell verwurzelten Bedürfnis nach Angleichung von Körper und Lebensweise an das innerlich bestimmende Geschlecht. Die Substitution von auf die anatomische Normalisierung fixierter paternalistischer durch psychosozial informierte Konzepte, bei denen das informierte, selbstbestimmte Subjekt auch bei jeder körperlichen Intervention im Mittelpunkt steht, ist ihrerseits ein Beleg dafür, dass die geschlechtliche Selbstbestimmung an Relevanz gewonnen hat. Deren Anerkennung und Schutz ist daher auch bei der Formulierung personenstandsrechtlicher Vorschriften entsprechend Rechnung zu tragen. Daher betrachte ich es als ein mutiges und ermutigendes Zeichen, dass das EKD-Studienzentrum für Genderfragen in Kirche und Theologie der ihm vom Bundesverfassungsgericht gewährten Möglichkeit zur Stellungnahme zur Frage des rechtlichen Umgangs mit intersexuellen Menschen nachgekommen ist, was nach meiner Einschätzung von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist und zudem dem kirchlichen "Wächteramt-Selbstverständnis" Rechnung trägt.

 

5. Wie stellen Sie sich einen gelungenen Umgang der Kirche mit transsexuellen Menschen vor?

Kennzeichen evangelischer Theologie ist es, sich neueren außertheologischen Wissensbeständen und gesellschaftlichen Realitäten nicht zu verschließen, sondern sie bei theologisch-ethischen Fragestellungen mit einzubeziehen und so Orientierung für die Auseinandersetzung mit Aufgaben und Herausforderungen heutiger Zeit zu geben. Es gilt, die Traditionen des eigenen Glaubens im Kontext neuzeitlichen Denkens und Handelns zu entfalten und in einer zunehmend von Komplexität und Differenziertheit geprägten modernen Gesellschaft argumentativ zu verantworten. Der Umgang der Kirche mit transsexuellen Menschen bedarf eines grundlegenden Wandels. Dabei geht es aber nicht um die Integration einer Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft im Sinne einer Nivellierung der Unterschiede. Auch geht es nicht um eine bloße "Toleranz" von Menschen, deren Status damit letztlich umstritten bleibt. Vielmehr geht es um die Gestaltung der kirchlichen Gemeinschaft auf eine Weise, die alle Menschen in ihrer je eigenen Individualität einbeziehen, Trennungen und Ausgrenzungen überwinden und Respekt vor und Wertschätzung der Vielfalt zur gleichberechtigten Teilhabe aller am kirchlichen Leben ermöglichen möchte. Hierzu gehört auch eine Position der Kirche zu geschlechtsangleichenden Operationen, wie sie der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau (EKHN), Volker Jung, in der im Februar 2017 erschienenen Materialsammlung Reformation für alle. Transidentität/Transsexualität und Kirche[3] bezogen hat, worin sich auch ein Interview mit Nikolaus Schneider, dem ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden, findet.

 


[1] Vgl. Stefan Hirschauer, Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel, Frankfurt: Suhrkamp 1993 (4. Auflage 2010).

[2] Vgl. http://www.focus.de/wissen/natur/transsexualitaet-der-raum-zwischen-den-geschlechtern_aid_154559.html (abgerufen am 24. März 2017)

[3] Zu bestellen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/reformation-fuer-alle/114154

 


(c) 2018 Studienzentrum der EKD für Genderfragen | Datenschutz | Sitemap
Publikationsdatum dieser Seite: Dienstag, 29. Mai 2018 16:33