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Geschlechterverhältnis

1. Begriff und Gegenstand

Geschlechterverhältnis beschreibt 1. das quantitative Verhältnis männl. und weibl. Individuen einer Population sowie 2. (meist im Plural) die gesellsch. Organisation und Institutionalisierung von Beziehungen zw. Männern und Frauen. Mit G.en befassen sich die Gender Studies als wiss. Disziplin sowie die Geschlechterforschung als Forschungsperspektive zahlr. Fachrichtungen, u.a. der Theologie. In Ausweitung zur vorangegangenen Frauenforschung machen sie nicht Frauen (bzw. Männer) zum Fokus der Theoriebildung, sondern Geschlecht als soz. Kategorie (1.). Konstitutiv ist 2. die Differenzierung zw. sozialem (engl. gender) und biolog. Geschlecht (engl. sex), 3. die Problematisierung gegenwärtiger G.e als asymmetrisch u. dichotom, sowie 4. das Postulat der Veränderbarkeit der G.e. Gegenstand der Geschlechterforschung ist neben der hist. und gesell. Organisation von G.en auch die diskursive und interaktive Konstruktion von Geschlecht. 

2. Historische Verhältnisbestimmungen


Das G. wurde in abendländ. u. bibl. Kulturen hierarchisch verfasst als Patriarchat. Die soz. Ungleichheit der Geschlechter wurde theol. bzw. biolog. hergeleitet. "Bis weit in die Moderne hinein wird unter Geschlecht eine biolog. begründete Aussage über das Wesen von Frauen und Männern verstanden. Männlichkeit und Weiblichkeit gelten als unveränderliche Gegebenheiten, die sich [.] als Geschlechtscharakter manifestieren und auf deren Grundlage die jeweilige Geschlechterordnung erklärt und legitimiert werden kann." (Wegner, 577). Essentialisierende Ansätze, die aus anatom. Unterschieden Wesenseigenschaften ableiteten, wurden im letzten Jh. durch sozialisationstheoret. Modelle abgelöst. Vgl. S. de Beauvoirs Dictum: ,Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu (gemacht).'

3. Aktuelle Theorien
3.1

Strukturorientierte soziol. Ansätze der Geschlechterforschung beschreiben mit dem G. als Leitbegriff seit den 1980er Jahren Ungleichheitsstrukturen auf d. Makroebene (Gesellsch.) wie z.B. die geschlechtsspez. Arbeitsteilung oder Gesetzgebung.

3.2

 Konstruktivistische Wende Seit den 1990er Jahren rückt der Beitrag des Individuums zur Herstellung der Geschlechterdiff. ins Zentrum soz. Analysen. Was wir an Geschlechterstereotypen (männl./weibl.) vorfinden, konstruieren wir in unseren Interaktionen täglich mit (doing gender).

3.3 Dekonstruktivismus

J. Butler hinterfragt zeitgleich die sex/gender-Unterscheidung und betrachtet auch das biolog. Geschlecht als Resultat kultur. Diskurse. Butler dekonstruiert nicht die materielle Beschaffenheit des Körpers, sondern auf philos.-methodol. Ebene seine erkenntnistheoret. Zugänglichkeit, da auch die Wahrnehmung des biolog. Geschlechts sozial vermittelt ist.

3.4.

Queer studies hinterfragen mit Butler Normalitäten und wirklichkeitserzeugende Kategorien wie die Heteronormativität und binäre Logik des G.es. Männl. u. weibl. werden neu verstanden als Pole eines Kontinuums mit fließenden Übergängen des Geschlechts (vgl. Intersexualität). 3.5 gender and diversity Intersektionale Forschungsansätze analysieren Geschlecht in seiner (v.a. intrapersonalen) Verwobenheit mit weiteren Kategorien soz. Ungleichheit wie ,race and class'. Daneben etablieren sich seit der Jahrtausendwende die Diversity studies, die Heterogenität als Signum postmoderner Gesellschaften betrachten. Auch sie nehmen neben dem Geschlecht weitere Differenzkategorien wie Religion, Alter, sex. Orientierung, ,Behinderung', Ethnizität in den Blick, zielen jedoch v.a. auf die Entwicklung konstruktiver Umgangsweisen mit Diversität (z.B. im Bildungs- u. Gesundheitswesen). Sie sind krit. abzugrenzen vom Diversity Management des Personalwesens.

4. Religion und Geschlecht


Religion kann zur Affirmation asymmetrischer G.e. genutzt werden (Eph 5: Mann Haupt der Frau; 1Kor 14: Schweigegebot) sowie zur präsentisch eschatol. Aufhebung im religiösen Bereich (Gal 3,28 Nicht Mann noch Frau). Wiewohl die Gottebenbildlichkeit des Menschen geschlechtsübergreifend gilt (Gen 1), übte das Christentum weithin eine legitimierende und stabilisierende Funktion auf das patriarchale G. aus, in welchem es entstand. Das G. wurde theol. aufgeladen (u.a. mittels Gen 2 u. 3: Nachrangige Schöpfung d. Frau u. Sündenfall), in die Sexualethik übernommen und tradiert. Vorstellungen von Weiblichk. und Männlichk. wurden so unter Verweis auf Schöpfungsordnung bzw. Naturrecht religiös codiert und universalisiert. Gegen eine verkürzte Theologie der Ordnungen ist festzuhalten, dass keine universal gültige Geschlechterordnung in Bibel oder Natur offenbart ist. Eine Nähe traditioneller Geschlechterrollenbilder zu trad. christl. Glaubensinhalten ist allerdings bis heute empir. nachweisbar (Lukatis, S.15). Kirchl. Positions-papiere, die den gesell. Wandel der G.e theol. reflektieren, sind umstritten (EKD; Dabrock). Bislang wenig wiss. Beachtung fand die bes. Relevanz des G.es in radikalisierten Formen von Religion (Liebsch). Theol. Untersuchungen beziehen sich u.a. auf symbol. Repräsentationen d. G. in den Rel., auf G.e in rel. Organisationen (z.B. Zugang zu Ämtern und Kult) sowie auf Gottesbilder.

4.1 Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz

Weil Geschlechterstereotype vor Gott Adiaphora sind (Gal 3,28), und Gott wie Mensch nicht auf ein Bild festzulegen sind, votiert I. Karle für eine Theol. jenseits der Geschlechterdifferenz. Ihr Ansatz dekonstruiert ontologisierende Festschreibungen von Weiblichk. u. Männlichk. zugunsten der Wahrnehmung schöpferischer Vielfalt von Individuen, Lebensverläufen und Beziehungsformen. "Denn wo der Geist Christi herrscht, haben Differenzen der Herkunft, der Ethnie, der körperlichen Ausstattung, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung keine diskriminierende Relevanz mehr - alle sind vielmehr ,einer in Christus'" (Karle, 256f).


 

Literatur-Hinweise:

S. DE BEAUVOIR, Das andere Geschlecht, 1968 - J. BUTLER, Gender Trouble: Feminism and the subversion of Identity, 1990 - P. DABROCK u.a. (Hg.), Unverschämt schön. Sexualethik: Evangelisch und lebensnah, 2015 - N. DEGELE, Gender/Queer Studies, 2008 - C. HAGEMANN-WHITE, Die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer Tat ertappen? Methodische Konsequenzen einer theoretischen Einsicht, in: U. Pasero, F. Braun (Hg.), Konstruktion von Geschlecht, 1995, 182-198 - I. KARLE E, "Da ist nicht mehr Mann noch Frau." Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz, 2006 - K. LIEBSCH, Religion und G.. Zur Ordnungsfunktion religiöser Symbolisierungen des G., in: Politik und Religion 33, 2003, 68-87 - I. LUKATIS u.a. (Hg.), Religion und G., 2000 - H. WEGNER, Art. G., in: ESL3, 577-581 - EKD, Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2013.

von Dr. Simone Mantei


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Publikationsdatum dieser Seite: Mittwoch, 21. November 2018 17:46